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Das Wechselspiel von Stärke und Zerbrechlichkeit durchzieht das Leben wie ein roter Faden. Simone Stocker schafft in ihrem Atelier nahe Bern die Transformation von rotem Faden zu weissem Porzellan. 

Porzellan verbindet zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Eigenschaften. Das Material trotzt dem Element des Feuers wie kaum ein anderes und hält in seiner Herstellung Temperaturen bis zu 1480 °C stand. Gegen das Licht gehalten macht das fein gearbeitete Material jedoch einen filigranen, durchscheinenden Eindruck. Es ist robust und doch zerbrechlich. Ist oft über Generationen hinweg in Familienbesitz und zerbricht bei einer unachtsamen Bewegung dennoch leicht in tausend Stücke. Es verwundert nicht, dass ein so vielfältiges Material fasziniert und inspiriert. Simone Stocker hat ihre Vorliebe für Porzellan bereits am Beginn ihrer Ausbildung entdeckt. Ein Spaziergang durch Neapel, wo sie an der Kunstakademie ein Studium, das ihr wenig zusagte, absolvierte, leitete ihren Blick in Richtung Keramikdesign. In einem kleinen Atelier widmete sich eine Bernerin inmitten der hektischen italienischen Stadt dem meditativen Kunsthandwerk und empfahl Simone Stocker den Besuch der Schule für Gestaltung in Bern. Gesagt, getan. Ihre Diplom­arbeit trug als Titel den italienischen Namen für Knöpfe, «Bottoni». Werden Knöpfe heutzutage aus Plastik oder Holz gefertigt, so waren sie früher eigene kleine Kunstwerke – und keinesfalls nur Mittel zum Zweck. Simone Stocker liess die alte Tradition kunstvoller Porzellanknöpfe wiederaufleben und fand so gleich zum Namen ihres ersten Labels. 

Mathematisch zu Tisch

In ihrer zweiten Diplomarbeit war das gesetzte Ziel, ein aussergewöhnliches Souvenir für Touristen zu gestalten, das die Schweiz repräsentiert, ohne dabei kitschig oder klischeehaft zu sein. Auch aus der Tradition heraus, dass es früher die Schweizer Bauern waren, die im Winter auf ihren Höfen Keramik fertigten, und in Anlehnung an den «Buurezmorge», das klassische herzhafte Bauernfrühstück, das am 1. August gereicht wird, gestaltete ­Simone Stocker das Frühstücksset «Torlo», bestehend aus Eierbecher, Tasse, Bowl sowie einem Suppenteller und einem grossen flachen Teller. Das Set, für das sie den «Eidgenössischen Preis für Design» erhielt, lässt auf den ersten Blick eine der grossen Leidenschaften der Künstlerin erkennen: ihre Faszination für Mathematik und geometrische Formen. Die klassischen mathematischen Gesetze des Wachstums wie die Fibonacci-Folge oder der Goldene Schnitt liegen dem Entwurf zugrunde. Werden die einzelnen Teile ineinander gestellt, so bilden die Öffnungen eine harmonische Kurve und erinnern an eine Blüte, die sich langsam öffnet. Das Zitat aus der Pflanzenwelt bringt eine weitere Komponente in das Set «Torlo», die in Simone Stockers Arbeiten eine wichtige Rolle spielt: die Natur. 

Inspirierende Perfektion

Egal ob es die Symmetrie und die zarte Schönheit von Blumen oder die beein­druckende Selbstorganisation von Bienen ist, der Garten vor der eigenen Haustüre ist Stockers grösste Inspiration. «Die Schönheit und das Gleichgewicht des Lebens sind am besten in der Natur und ihren Formen sichtbar», ist die Keramikkünstlerin überzeugt. Schon als Kind war sie vom Aufbau von Pflanzen angetan und studierte diese im Garten ihrer Eltern. Doch auch andere Künstlerinnen und Künstler, die sich geometrischen Formen und poetischen Designs widmen, faszinieren die 1974 in Zürich geborene Künstlerin. Zum Beispiel die aus Österreich stammende Lucie Rie, die dafür bekannt war, Rohglasuren zu verwenden, bei denen der Ton bei der Brennung mit Oxiden reagiert, was für eine ungewöhnliche Oberfläche sorgte. Eine weitere Inspirationsquelle ist die türkische Glas- und Keramikkünstlerin Alev Ebüzziya Siesbye, die in ihren Arbeiten den Minimalismus der skandinavischen Designsprache mit den Mustern der anatolischen Kultur verbindet. Ein Landsmann, mit dem Simone Stocker die Liebe zu geometrischen Mustern verbindet, ist Andreas Steinemann. Linien, Kreise und Strukturen prägen sein Werk – einmal in Farbe, einmal in schlichtem Schwarz-Weiss. Farben spielten in Stockers Kunst lange eine untergeordnete Rolle. Sie konzentrierte sich viel mehr auf das Design und die Form. Dabei bevorzugt sie in der Herstellung die Arbeit an der Drehscheibe. Sie ist näher dran am Entstehungsprozess, und das Zusammenspiel von Innen- und Aussenkurve fasziniert sie. Obwohl sie auch Formen giesst wie z. B. einen grossen Teller in Form einer Blume, empfindet sie den Arbeitsprozess als ambivalent: «Beim Giessen kopiere ich praktisch meine eigene Arbeit. Das ist immer ein komisches Gefühl.» In ihrer letzten Kollektion «Ava» wagte sie sich erstmals grossflächiger an fein geschliffene Engoben (Anm. Begussmasse), wählte dafür pudrige Farben und, wie könnte es anders sein, Formen, die von der Natur und der Geometrie inspiriert sind: dünne, ineinander gelegte Kreise, Blumen, auseinandertreibende Linien, die sich zu bewegen scheinen, wenn sie aus wechselnden Blickwinkeln betrachtet werden, und Bienenwaben. Für Letztere hegt Simone Stocker eine besondere Faszination, oder besser gesagt für ihre Bewohnerinnen. Wie organisiert und wie wichtig sie für das Leben des Menschen sind, ohne dass sich dieser dessen bewusst ist. Das oftmals fehlende Bewusstsein der Menschen für die Zerbrechlichkeit der Natur ist generell etwas, das der Künstlerin zu schaffen macht. «Wenn ich sehe, dass die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, berührt mich das sehr. Wir sind ein Teil der Natur, müssen beginnen, uns als solcher wahrzunehmen, und damit aufhören, sie auszubeuten.» 

Menschlich betrachtet

Vielleicht kommt Stockers Faszination für Natur und Porzellan daher, dass die beiden so viel gemeinsam haben. Eine kleine Pflanze kämpft sich mitunter durch steinharten Beton, und dennoch kann der falsche Umgang mit einem Ökosystem alles aus dem Gleichgewicht bringen. Ebenso zerbrechlich auf der einen und stark auf der anderen Seite ist es um die menschliche Psyche bestellt. Gerade deshalb verwundert es nicht, dass dies ein neuer Aspekt in Simone Stockers Leben ist: Seit 2018 studiert sie an der «FernUni Schweiz» Psychologie. Seit vielen Jahren gibt sie Keramikkurse für Laien, aber auch für Studierende an der Schule für Gestaltung in Bern. War es anfangs noch oft ein Problem, genügend Teilnehmer für einen Kurs zu versammeln, so spürt Stocker in den letzten Jahren die Begeisterung der Menschen für Handwerk und Do-it-yourself. «Es heisst ja, Keramikkurse sind das neue Yoga», meint sie lachend. Bietet Yoga die Möglichkeit, neben körperlicher Fitness auch geistig zur Ruhe zu kommen und dem eigenen Rhythmus zu folgen, so lehrt einen das Herstellen von Porzellan andere wichtige Aspekte des Lebens. Es werden Ideen geschmiedet, es werden Pläne gemacht – und doch kommt am Ende oft ein ganz anderes Ergebnis heraus. Im Gegenzug lernen auch Kursleiterinnen sehr viel über die Menschen. Die einen arbeiten vorab akribisch am Zeichentisch, die anderen legen einfach los. Die einen zweifeln an sich und ihren Fähigkeiten, die anderen lassen sich auch von mehreren Fehlversuchen nicht unterkriegen. Halten die Kursteilnehmer am Ende ein selbst ­gestaltetes und einzigartiges Produkt in Händen, überwiegen jedoch bei den meisten Stolz und Freude, egal wie beschwerlich der Weg dorthin war. 

Kunst auf den Tisch

Warum wir im täglichen Leben Geschirr nicht in der Form wertschätzen, wie wir es mit selbst gestalteten Keramikstücken oder auch anderen Gebrauchsgegenständen machen, ist Simone Stocker ein Rätsel. «Einen guten Wein trinke ich ja auch nicht aus dem Zahnputzbecher. Ich nehme dafür ein feines Glas aus der Vitrine, das ich im Anschluss per Hand abwasche, vorsichtig abtrockne und wieder sorgfältig wegräume.» Beim Geschirr-Service ist dieser Genussaspekt noch nicht so recht angekommen, dabei haben gerade dekorative Teller und Schüsseln einen vermittelnden Auftrag zwischen zwei Bereichen, die oftmals sehr weit auseinander zu sein scheinen. «Ein Gebrauchsgegenstand, der gestaltet ist, bildet die perfekte Brücke zwischen Kunst und Alltag», ist Simone Stocker überzeugt. Auf dieser Brücke kommt einem jedoch oft auf halbem Weg die Wegwerfgesellschaft entgegen. Natürlich befinden sich die Werke von Stocker in einer höheren Preisklasse als jene Teller und Tassen, die gemeinhin gekauft und nach ein paar Jahren entsorgt werden. Doch vielleicht hat der Trend hin zu einer bewusst gewählten Langsamkeit auch bald den Esstisch erreicht. Der Aspekt des bewussten Geniessens flüchtiger Momente wird noch wichtiger, wenn Kinder ins Leben treten. Diese Erfahrung macht ­Simone Stocker selbst seit 2010. «Es geht nicht nur darum, was in einem selbst passiert, auch die Umwelt hat einen grossen Einfluss auf die kreative Arbeit», sagt ­Stocker. Doch vielleicht gilt es, gerade all diese Einflüsse ab und zu auszuschalten, sich bewusst Zeit zu nehmen für ein ausgedehntes Frühstück, sorgfältig die weiss strahlenden Teller von «Torlo» aus dem Schrank zu nehmen, aus dem Eierbecher ein perfekt gekochtes Ei zu löffeln, sich auch an nicht geradlinig verlaufenden Morgen an der Symmetrie des Porzellans zu erfreuen und Mut zur Langsamkeit zu beweisen. 

Weisses Gold

Die Anfänge der Porzellanherstellung werden von Historikern gemeinhin auf etwa 600 n. Chr. festgelegt. Erfunden wurde die Mischung aus Kaolin, Feldspat und Quarz in China. Erst im Jahr 1708 gelang es in der Festung Dresden, das erste europäische Hartporzellan zu erzeugen. Ab 1710 wurde in Meissen die erste europäische Porzellanproduktionsstätte errichtet. Das Meissner Porzellan ist bis heute berühmt. Die zweitälteste Porzellanmanufaktur Europas entwickelte sich ab 1718 in Wien. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Porzellanherstellung vor allem durch die Industrialisierung geprägt, die Porzellan zum Massenprodukt machte, doch die letzten Jahre brachten im deutschsprachigen Raum eine leichte Trendwende weg von rationalisierten Arbeitsabläufen und hin zu kleineren Produktionen im höheren Preissegment. 

Porzellan inspiriert von der Natur: simonestocker​.com