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Industriebauten erleben dank gekonnter Umwidmung ihren zweiten Frühling.

Grosse Fenster, Metallverstrebungen, Betonböden und der Hauch vergangener Zeiten. Wer schon einmal durch einen leer stehenden Industriebau streifen durfte, sieht vor allem zwei Dinge: eine raue Schönheit und unzählige Möglichkeiten. Während die meisten von uns bei Denkmalschutz an prächtige Altbauten in europäischen Innenstädten denken, so haben auch Industriebauten einen erhaltenswerten Charme und Qualitäten, die heutzutage wieder gefragt sind – von der Liebe zu Loft-Wohnungen bis hin zu Künstlerkollektiven. Ihren Ausgang nahm die Industrialisierung in England, wo im 18. Jahrhundert technische Innovationen wie die Dampfmaschine eine maschinelle Erzeugung von Gütern und somit eine neue Form des Wirtschaftswachstums ermöglichten. In den meisten anderen europäischen Staaten hielt die industrielle Revolution zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 Einzug. Heute hat sich die Industrie allerorts an die Stadtränder und in eigene Industriegebiete zurückgezogen und manche Branchen gibt es schlichtweg nicht mehr in dieser Form. Die Folge: industrielle Schmuckstücke, die darauf warten, neu entdeckt und einer neuen Bestimmung zugeführt zu werden. 

Kultur findet Raum

Hohe Räume, viel natürliches Licht und viel Platz – hält man sich die wesentlichen Merkmale von industriellen Produktions- oder Verkaufshallen vor Augen, verwundert es nicht, dass sie so oft ein zweites Leben als Orte für Kunst und Kreativität führen. Sei es als Zusammenschluss mehrerer Künstler und Galerien oder als Veranstaltungszentrum für Events. Auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei Leipzig-Lindenau beispielsweise sind heute Künstler wie Neo Rauch, einer der bekanntesten Vertreter der Neuen Leipziger Schule, tätig. Mit der gekonnten Mischung aus Industriearchitektur und Kunst wurde die Baumwollspinnerei schnell als eines der interessantesten Atelier- und Galeriezentren für zeitgenössische Kunst in Europa in der internationalen Kunstszene bekannt. Das Gelände, auf dem einst rund 80 Jahre lang bis zu 4000 Menschen im Schichtbetrieb arbeiteten, besichtigen heute mehrere Tausend Menschen pro Jahr, denn die Faszination für die Architektur der Industrie ist gross. 

Klein aber oho

Dass ein industrielles Gebäude nicht immer weitläufig sein muss, um Kultur Raum zu geben, zeigt die Alte Mälze im deutschen Lauterhofen. Das schlichte und mit 173 m2 Nutzfläche recht kleine Baudenkmal aus dem 16./17. Jahrhundert wurde nach Plänen des Architekturbüros Berschneider + Berschneider zu einem multifunktionalen Treff für das kulturelle Gemeindeleben. Dabei wurde darauf geachtet, möglichst viel Ursprünglichkeit zu bewahren. Moderner Putz wurde abgetragen, Balken wurden freigelegt und die unebenen Oberflächen bewusst belassen. Einbauten wie beispielsweise eine frei in den Raum gehängte WC-Box aus warmgewalztem Schwarzstahl oder eine neue Galerieebene unter dem Dach wurden so ausgeführt, dass ein späterer Rückbau und damit eine Umnutzung des Gebäudes einfach möglich ist. Ob Mal-Workshop im Gewölbekeller, eine Lesung im Erdgeschoss, ein Kabarettabend in der Galerie oder ein Treffen in der gemütlichen Lounge – die Alte Mälze bietet auf kleinem Raum unzählige Möglichkeiten. 

Auch das ländliche Dänemark verfügt über ein reiches industrielles Bau-Erbe, das vielerorts leider leer steht und verfällt, da es bislang eher in den grossen Städten den wirtschaftlichen Anreiz zur Umgestaltung von Industriebauten gibt. Dass dies ein Irrglaube ist und die kleinen Fabriken auf dem Land Raum für neue Wohnkonzepte schaffen, beweist das Pilotprojekt Fabers Fabrikker von Arcgency. Das Architekturbüro aus Kopenhagen hat ein innovatives Haus im Haus-Konzept entwickelt, bei dem essenziell ist, dass sich die Wohnungen an die Struktur der ehemaligen Fabrik anpassen und nicht umgekehrt. Nur die Gebäudeteile, die in kritischem Zustand waren, wurden renoviert, der Rest wurde belassen. Innerhalb der Rohräume der Fabrik – der Hülle – wurde eine eigenständige Holzkonstruktion errichtet – der Kern. Im beheizbaren Kern befinden sich der Küche-Ess-Bereich, Schlafzimmer und das Badezimmer. Die Hülle ist ein unbeheizter, flexibler Raum, der als Atelier, Indoor-Spielplatz oder für Hobbys genutzt werden kann und der durch Glaspaneele, die vollständig geöffnet werden können, vom Kern getrennt ist.

Industrie ganz daheim

Ein faszinierendes und kluges Raumkonzept wurde auch vom Architekturbüro APA London in der Loft-Wohnung des Künstler-Paares Dalia Ibelhauptaite und Dexter Fletcher umgesetzt. Als Heimat der Industrialisierung bietet Grossbritannien einige hervorragende Beispiele, wie man industrielle Gebäude aus dem Dornröschen-Schlaf erwecken kann. In diesem Fall eine ehemalige Schuhfabrik im Londoner Stadtteil Clerkenwell. Grosse Fenster und viel natürliches Licht prägen den Raum. Gleich ins Auge sticht der dominante schwarze Kubus im Apartment, der in sich das Badezimmer und die Waschküche sowie in den Wänden das Buch- und Filmarchiv enthält. Die persönlichen Erfahrungen sowie die künstlerische Arbeit der Bewohner spiegeln sich im Design wider. Die Vorliebe für kunstvolle Klarheit zeigt sich in der monochromen Farbpalette erkenntlich, Erinnerungen an einprägsame Reisen wie z.B. nach Japan finden sich in Interieur-Details wie die Shoji-Tür, die Schlaf- und Wohnraum trennt. 

Ebenfalls in London an der Cousin Lane und – wie der Name des Gebäudes vermuten lässt – nahe der Themse gelegen, ist The River Building, welches im Auftrag einer Investmentfirma von Stiff + Trevillion renoviert wurde. Dabei wurde vor allem die südliche Gebäudefassade aufgewertet und der Gebäudeeingang in der Cousin Lane neugestaltet. Dabei sticht einmal mehr die gekonnte Kombination von Neu und Alt ins Auge. Klassische Merkmale des Industriebaus wie Ziegelwerk und dominante Metallverstrebungen werden durch indirektes Licht, zurückhaltende Ergänzungen in ähnlichen Materialien oder eine minimalistische, einfarbige Raumgestaltung betont und bekommen Raum, zu wirken. Glas wirkt dabei sowohl als Raumtrenner als auch als Verbindungsstück. 

Genuss unter Balken

Dass man im industriellen Ambiente nicht nur gut wohnen und arbeiten, sondern auch speisen kann, beweist Snodo, ein gastronomisches Rundum-Erlebnis in Turin. Die ehemaligen Eisenbahnausbesserungswerke OGR aus dem späten 19. Jahrhundert, die einst das Herzstück einer pulsierenden Stadt waren, die schon früh von der industriellen Entwicklung profitierte. Der Raum, in dem einst die Züge vom nördlichen in den südlichen Bereich fahren konnten, ist heute ganz den kulinarischen Künsten gewidmet und verbindet Innovation mit Tradition. So finden sich beim Interieur klassische industrielle Materialien wie grobes Holz und Eisen, aber ebenso eine ausgeklügelte LED-Beleuchtung, Projektionen, futuristische Lampen und Skulpturen. Snodo, das vom Architekturbüro Boffa Petrone & Partners gestaltet wurde, umfasst fünf Teilbereiche – ein Restaurant, einen Lounge-Bereich, das Premium-Restaurant, die Cocktailbar und einen Smart-Bar-Bereich. Herzstück des Restaurants ist ein 25 Meter langer Tisch aus Holz und Eisen. 

Am anderen Ende der Welt, genauer gesagt in Geelong im australischen Bundesstaat Victoria, hat die Little Creatures Brewery 2012 eine ehemalige Textilspinnerei übernommen und zu einer Mischung aus Produktionsstätte und Bewirtungsareal umgestaltet. Wo einst Wolle gelagert wurde, kann heute ein Blick hinter die Kulissen der Bierbrauerei geworfen und in Bars und Restaurants geschlemmt werden. Die denkmalgeschützte Spinnerei mit ihren charakteristischen roten Ziegeln wurde in enger Zusammenarbeit mit der Stadt revitalisiert, um möglichst viel der Grundbausubstanz zu erhalten. So bleiben die letzten Erinnerungsstücke an die industrielle Revolution vor mehr als 150 Jahren erhalten, während sie innerlich endlich im 21. Jahrhundert ankommen dürfen.