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Das Schweizer Tanzgenie Martin Schläpfer leitet ab sofort das Wiener Staatsballett. Was folgern wir daraus? Die Ära Roščić fängt ja gut an! 

Ein 15-Jähriger, der gedankenverloren auf einem Eislaufplatz in St. Gallen seine Pirouetten drehte – und eine Ballettlehrerin, die ihn sah, das Potenzial erkannte und den Grundstein für eine grosse Karriere legte: So bewegend begann die Geschichte von Martin Schläpfer, der einer der führenden Ballettchefs und Choreografen Europas wurde. Nun erklimmt der scheue Schweizer und Bergliebhaber den Olymp der Ballettwelt und übernimmt 59-jährig die Leitung des Wiener Staatsballetts, nachdem er im vergangenen Jahrzehnt das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg zu einer der ersten Adressen der Tanzkunst in Europa gemacht hat. Keine zwei Jahre nach seiner Entdeckung erhielt Martin Schläpfer den angesehenen Prix de Lausanne für junge Tänzer und ein Stipendium für die Royal Ballet School in London. Schläpfer tanzte in der Folge beim Basler Ballett, wo er zum Solisten avancierte. Er verschrieb sich auch schon früh der Pädagogik. Seit Mitte der 90er-Jahre formte Schläpfer schliesslich drei unverwechselbare Kompanien, die unzählige Preise bekamen: das Berner Ballett, das ballettmainz und zuletzt das Ballett am Rhein, das von deutschen Kritikern mehrfach zur «Kompanie des Jahres» gewählt wurde. 

Mitreissende Subtilität

Geschätzt wird er für die mitreissende Intensität seiner Choreografien und seine subtilen Bewegungsstudien, die Kraft, aber auch die Fragilität, welche seine schillernden Tanzwelten beherrschen. Schläpfer lässt seine Tänzer die Arme kraftvoll schleudern, Balancen ausloten, freudig springen, mit dem Körper musizieren. Er scheut keine Brüche, keine Blicke auf das Innere, keine komplizierten Fragen. Er erzählt Geschichten, ohne auf herkömmliche Handlungsballette zu setzen, vielmehr geht es ihm um Energie, um die menschliche Psyche, um Archetypen, sehr oft um Frauen. Klar ist, dass Wiens Ballettpublikum eine grosse Veränderung bevorsteht. Martin Schläpfer unterscheidet sich stark vom bisherigen Ballettchef Manuel Legris, der dem Stil Rudolf Nurejews verpflichtet war, das Ensemble zu einem von internationalem Rang geformt hat und dem klassischen Handlungsballett grosses Gewicht gab. Letzteres will auch Schläpfer nicht komplett aus dem Programm streichen, wohl wissend, dass das Wiener Publikum dies nicht gutheissen würde. Die Annahme, dass er Klassisches nicht oder weniger möge, wies Schläpfer in Interviews wiederholt zurück. Gleichzeitig bezeichnet er sich als Brückenbauer, der seine Choreografien auf der klassischen Technik aufbauend modern gestaltet und neue Impulse setzt. Sein Anliegen sei es, «die Vergangenheit mit dem Heute zu verbinden».

Roščić’ guter Ruf

Als der Ruf von Staatsoperndirektor Bogdan Roščić ans Wiener Staatsballett kam, zögerte er – wie vor Jahren auch, als er für die Nachfolge von Vladimir Malakhov beim Staatsballett Berlin im Gespräch war. Seine Lebensplanung war eine andere, wollte er doch nach seinem Abschied in Düsseldorf und Duisburg freischaffend tätig sein und in die Schweiz zurückkehren, ins Tessin ziehen, unterrichten, ein Stück pro Jahr kreieren. Die Beharrlichkeit und das dreimalige Anfragen des neuen Staatsoperndirektors trugen Früchte – schliesslich entschied sich Schläpfer für Wien. Nun hofft man, nach Corona und den Theaterschliessungen im Frühjahr gut in eine ganz besondere erste Saison starten zu können und beim Publikum auf Offenheit zu stossen. Ebendiese möchte Schläpfer auch dadurch signalisieren und erreichen, dass er neben den Aufführungen Einblicke in seine schöpferische Arbeit ermöglicht. Die neue Gesprächsreihe «Tanzpodium» soll dabei ebenso helfen wie offene Trainings, die er zum Teil selbst leitet, sowie Einführungsveranstaltungen und eine engere Bindung des bestehenden «Ballett-Clubs» an das Ensemble.

Freudentänze

Mit «Mahler, Live» zeigt Schläpfer ab 07. Dezember erstmals eine eigene Choreografie in Wien: «4» zu Gustav Mahlers vierter Symphonie erlebt dabei die Uraufführung, kombiniert wird diese mit «Live» von Hans van Manen. Mit «Ein deutsches Requiem» kommt am 30. Januar eine bestehende Schläpfer-Schöpfung an die Volksoper. Im Mai folgt dort «Promethean Fire» mit Arbeiten von Schläpfer, Paul Taylor und Mark Morris. Im selben Monat bringt Schläpfer an der Staatsoper ein Tanzfest der amerikanischen Neoklassik heraus, wenn er Werke von Jerome Robbins und George Balanchine unter dem Titel «A Suite of Dances» kombiniert. Den Saisonabschluss macht der Abend «Tänze Bilder Sinfonien» mit Choreografien von George Balanchine, Alexei Ratmansky und Martin Schläpfer, der die Uraufführung der 15. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch beinhaltet. Mit all diesen Koryphäen der modernen Tanzkunst möchte Schläpfer zeigen, was uns heute bewegt. «Neue Wege» sind ihm ein Anliegen. Klar ist schon jetzt: Publikum wie Tänzer sollen «sanft, aber bestimmt» in eine neue Richtung geführt werden.

wiener​-staatsoper​.at