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Gil Roman ist Tänzer und Choreograf aus Leidenschaft. Genauso leidenschaftlich widmet er sich seiner Aufgabe als künstlerischer Leiter des international bekannten Béjart Ballet in Lausanne. Der Franzose hat das Erbe Maurice Béjarts nicht nur bewahrt, sondern es kontinuierlich weiterentwickelt. Niemand weiss besser als Gil Roman, dass der Erfolg das Resultat harter Arbeit ist. Und er ist unglaublich stolz auf seine Compagnie.

Im Hintergrund ertönt aus einem Proberaum sanfte Klaviermusik. Im engen Gang sitzen Tänzerinnen und Tänzer entspannt am Boden und geniessen die Trainingspause, um über alltägliche Dinge zu sprechen. Andere sind mit ihrem Smartphone beschäftigt. Unweit von den Garderoben entfernt bereiten fleissige Näherinnen die Kleider für die nächsten Aufführungen vor, während in einer Art Werkstatt nebenan der bestens gelaunte Herr über die Ballettschuhe das Arbeitsinstrument der Tänzer säuberlich in kleine Stoffsäckchen verpackt und beschriftet. Als ehemaliger Tänzer weiss er genau, wo der Schuh drückt, und erklärt uns fachmännisch die verschiedenen Details. Während wir wieder Richtung Kantine schlendern, kommt uns Gil Roman entgegen, umarmt im Vorbeigehen die Tänzer und wechselt mit ihnen einige Worte. Es ist sofort spürbar, dass ihm der Kontakt mit seinen Tänzern wichtig ist. Der dunkelhaarige, feingliedrige Franzose spricht leise und doch auf seine Art bestimmt. Ein zartes Lüftchen der Ungeduld weht im Raum. Es scheint, als hätte der Maître tausend verschiedene Dinge im Kopf. Dennoch hört er seinem Gegenüber aufmerksam zu.

Ballettaufführungen üben auf den Zuschauer eine ganz besondere Faszination aus. Der Ausdruck der Tänzer in Kombination mit der Musik ist von sinnlicher Leidenschaft und fast träumerischer Schönheit. Jedes Detail sitzt. Existiert für Sie Perfektion? 

(Lächelt) Perfektion ist zwar ein ange­strebtes Ziel, aber sie existiert nicht. Für mich ist Perfektion die Suche nach der Reinheit und der Präzision einer Bewegung.

Im Alter von sieben Jahren haben Sie das Ballett dank Ihrer Schwester Brigitte entdeckt. Welche Bedeutung hatte damals das Männerballett? 

Zu jener Zeit war ich mir der Bedeutung nicht bewusst. Grundsätzlich waren männliche Tänzer im Ballett nicht besonders ­beliebt. An etlichen Orten ist dies auch heute immer noch der Fall. Ich habe den Tanz aufgrund der damit verbundenen Energie und der physischen Leistung als sehr männlich empfunden. Später habe ich dank Maurice Béjart entdeckt, dass diese Vision des Männerballetts tatsächlich existiert. Dies hat meine Meinung bestärkt. Als Kind habe ich es nie als Problem empfunden. Es waren eher die anderen, die sich allenfalls daran störten.

Hat der Tanz Sie oder haben Sie den Tanz gefunden? 

Der Tanz hat definitiv mich gefunden. Als ich meine Schwester Brigitte das erste Mal ins Ballett begleitete, war ich sofort davon gefesselt. 

Sie haben auf allen grossen Bühnen dieser Welt getanzt – und dies jahrzehntelang mit einer unglaublichen Intensität. Dazu sind sicherlich nicht viele Tänzer in der Lage. Haben Sie Ihren Körper regelmässig geschont, um ihn vor Verletzungen zu schützen?

Für mich waren es drei Faktoren, die viel dazu beigetragen haben, eine Karriere wie die meinige führen zu können. Eine Portion Glück, viel Erfahrung und eine gute körperliche Konstitution, die mich vor Verletzungsanfälligkeit bewahrte. Ich hatte aber auch das Privileg, mit Maurice Béjart einen Choreografen an der Seite zu haben, der ab einem bestimmten Zeitpunkt gewisse Dinge meinem Alter und Körper entsprechend adaptiert hat. Diese Anpassungen haben mir erlaubt, weiter zu tanzen. Wenn ich all die Jahre ausschliesslich klassischen Tanz ausgeübt hätte, wären zweifelsohne mehr körperliche Probleme auf mich zugekommen. 

Sie haben unglaublich viele verschiedene Aufführungen getanzt. Gibt es eine, die Sie ganz speziell lieben? 

Sicherlich habe ich einige Aufführungen lieber getanzt als andere. Eigentlich habe ich aber alles geliebt, was ich gemacht habe. Wenn ich heute zurückblicke, war jede Rolle unendlich wichtig für mich, für die Entwicklung und das Verständnis ­meines Berufs – sei es auf mentaler oder physischer Ebene, sei es in Bezug auf die Hürden und Schwierigkeiten, die es zu überwinden gab. Jede Erfahrung war 
wie ein kleiner Mosaikstein auf meinem Weg, der es mir ermöglichte, weiter zu kommen. 

Tanzen Sie immer noch?

Ich trainiere regelmässig, tanze aber nur wenige Aufführungen. 

Sind Tänzer Einzelkämpfer?

Ich bin der Auffassung, dass im Leben letztendlich jeder für sich selbst kämpfen muss. Was das Tanzen betrifft, ist es wichtig, dass jeder Tänzer individuell an sich arbeitet, eine eigene innere Disziplin aufbringt, um sich selbst zu befreien. Ziel ist es, nicht im Alleinsein zu verharren, sondern auf die anderen Menschen zugehen zu können. 

Viele kreative Personen brauchen Zeit für sich selbst, um nachdenken und neue Ideen sammeln zu können. Wie wichtig ist die Einsamkeit für Sie? 

Für mich ist die Einsamkeit essenziell, um Energie zu tanken und mich wieder zu finden. Ich nütze diese Momente auch, um mit mir ins Reine zu kommen. Dies ist aber nur möglich, weil ich von einem Team ­umgeben bin, das mich kontinuierlich unterstützt. Das tägliche Gespräch mit den Tänzern ist unendlich wichtig, um gemeinsam mit ihnen etwas zu kreieren. 

Wie gehen Sie bei der Kreation einer neuen Aufführung vor? Haben Sie die ganze Produktion bereits im Kopf, wenn Sie sie Ihrem Team vorstellen?

Viele Menschen haben bei Beginn eines Projekts klare Vorstellungen und setzen diese exakt so um. Ich bin das genaue Gegenteil. Ich steige in ein Boot und habe keine Ahnung, in welche Richtung es ­gehen soll. Mich interessieren das Abenteuer und der Weg bis zum Endprodukt. Der ganze Prozess hat verschiedene Phasen. Am Anfang habe ich möglicherweise mehrere Ideen im Kopf. Manchmal beginne ich von sehr weit entfernten Punkten, die danach miteinander verbunden werden, oder auch nicht. Das Ganze erhält jedoch erst durch die tägliche Arbeit mit den Tänzern und über die Choreografie einen Sinn. Auf diese Weise kann sich alles entwickeln und wachsen. Das ist unglaublich spannend. Ich will immer etwas lernen. Meine Person ist dabei vollkommen uninteressant. Wenn ich mich in die Position versetzen würde, dass ich alles kann, hätte es wenig Sinn, diesen Beruf auszuüben. Ich bin stets offen für alles und nehme die Chancen an, die sich mir bieten.

In Ihrem Buch «Les territoires amoureux de la danse» beschreiben Sie, dass Sie eine ungeduldige Person sind. Im Alltag und im Umgang mit den Mitmenschen sicherlich keine einfache Sache. 

Das stimmt. Im Alltag geben mir die Menschen unendliche Freude oder aber stürzen mich in totale Depression, wenn etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle. Die Ungeduld entsteht dann, wenn ich versuche, es richtig zu machen. Wenn ich ins Studio gehe, habe ich die verschiedenen Szenen nicht vorbereitet. Für mich stellt sich dann jeweils die Frage, ob ich den Draht zu den Tänzern finde, ob ich ihnen Rollen zuteilen kann, die sie interessieren, oder ob ich ihre Erwartungen erfüllen kann. Was muss ich machen, damit alles gut funktioniert? Das ganze Team trainiert unglaublich hart. Wenn alles klappt, entsteht plötzlich eine Magie, die sich auf der Bühne letztendlich auch auf den Zuschauer überträgt. 

1979 sind Sie im Alter von 19 Jahren zu Maurice Béjart gestossen, dessen Truppe ihren Sitz in Brüssel hatte und unter dem Namen «Ballet du XXe siècle» unterwegs war. Welche Ambitionen hatten Sie damals als junger Tänzer?

Ich war unglaublich ambitioniert. Als ich am Anfang zu seiner Truppe stiess, war ich der Überzeugung, spätestens in drei Jahren der Star zu sein. Und genau an diesem Punkt begann mein Weg. Durch meinen Stolz und meinen Willen bedurfte es einiges an Zeit, um meine Denkweise zu ­verändern. Aber ich habe viel gelernt und bin demütiger geworden. Dabei haben mir auch die vielen Persönlichkeiten geholfen, denen ich begegnet bin. Während meiner Ausbildungszeit beschäftigte ich mich ­ausschliesslich mit dem klassischen Tanz und hatte daher bestimmte Vorstellungen. Durch die Zusammenarbeit mit Maurice Béjart habe ich den Tanz ganz neu entdeckt. 

Maurice Béjart war zweifelsohne ­einer der einflussreichsten und gleich­­zeitig kontroversesten Choreografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Entsprechend lang war sicherlich der Schatten von Béjart, als Sie nach seinem Tod die artistische Leitung übernommen haben. War es für Sie schwierig, dem Béjart Ballet Ihre eigene Identität zu geben?

Ich habe nicht versucht, meine Identität in radikaler Art einfliessen zu lassen. Mein Ziel war es, das Bestehende weiterzuführen. Maurice Béjart war der Maître, den ich gewählt hatte, und die Person, mit der ich einen langen Weg gegangen bin und mit der ich alles geteilt habe. Die Veränderungen waren eher organischer Natur, wie die Kreationen oder meine Art zu arbeiten. Ich wollte all das, was ich in irgendeiner Form erhalten hatte, auf meine Art weiterver­mitteln. Diejenigen, die weiterhin mit mir zusammenarbeiten wollten, blieben, andere gingen. Dies war ein natürlicher, zu Beginn jedoch harter Prozess. Jede Veränderung braucht eine gewisse Zeit, um sich zu etablieren. Die Tänzer haben sich gemeinsam mit mir auf eine Reise begeben.

Wie hat sich der Balletttanz im Lauf der letzten 30 Jahre verändert?

Der Tanz ist das Echo der Gesellschaft mit all ihren Problemen. Entsprechend hat sich in der Welt des Balletts enorm viel geändert. Der Lebensrhythmus ist viel schneller geworden. Sowohl die Choreografien als auch die Tänzer haben sich entwickelt. Auch haben sich die Techniken auf gewisse Weise verändert. Der Fluss in den Bewegungen hat zunehmend an Wichtigkeit gewonnen. 

Als Kind gingen Sie mit Ihren Eltern oft segeln. Seit 1987 wohnen Sie in Lausanne. Welche Bedeutung haben das Meer und der See für Sie?

Das Wasser war und ist auch heute noch ein grosses Thema. Mit Ausnahme meines Aufenthalts in Brüssel wohnte ich immer in der Nähe des Wassers. Die Harmonie der Wellenbewegungen übt einen besonderen und beruhigenden Effekt auf mich aus. 

Haben Sie noch einen unerfüllten Traum oder ein Projekt, die Sie unbedingt realisieren möchten?

Oh ja, wobei ich das Wort unbedingt nicht benützen möchte. Als ich das letzte Mal unbedingt etwas wollte, konnte ich es nicht realisieren. Das war äusserst frustrierend. Für mich ist es wichtig, ein schönes Objekt zu kreieren. Jede Ballettaufführung ist ein Versuch, eine Entdeckung. Ich passe mich dem an, was ich erhalte. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Ein Leben für den Tanz

1960 in der Nähe von Montpellier geboren, entdeckte Gil Roman seine Liebe zum Ballett im Alter von sieben Jahren. Der talentierte Tänzer schloss eine klassische Ausbildung an der «Académie Princesse Grace de Monaco» ab. 1979 stiess er zum «Ballet du XXe siècle» von Maurice Béjart. Eine Entscheidung, die sein weiteres Leben stark beeinflussen sollte. 30 Jahre lang tanzte Gil Roman die berühmtesten Ballettaufführungen weltweit. 2007 übernahm der Franzose nach dem Tod von Maurice Béjart die künstlerische Leitung der Compagnie. Mit ungefähr zehn verschiedenen Stücken bietet das Béjart Ballet ein reichhaltiges Programm an, das das Publikum weltweit begeistert. 39 professionelle Tänzerinnen und Tänzer aus 17 verschiedenen Nationen sind aktuell im Béjart Ballet engagiert. Pro Saison absolvieren sie 80 Vorstellungen, benötigen jährlich 1200 Kostüme und «vertanzen» 2500 Paar Ballettschuhe.

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